Wort der Schweizer Bischöfe

Barmherzig mit Migranten und Flüchtlingen

 

Liebe Brüder und Schwestern,

Das Jahr der Barmherzigkeit ist eine Gnade für die Kirche und für die Welt. Es wurde eröffnet im Augenblick, als in den Kathedralen der ganzen Welt Pforten mit dem Namen „heilig“ bedacht wurden. Dies geschah eine Woche nach dem Tag, an dem Papst Franziskus offiziell das Heilige Jahr der Barmherzigkeit eingeweiht hat, indem er die Heilige Pforte des Peterdoms in Rom öffnete. Hier ist ein Detail zu beachten, das weit mehr ist als ein Detail. Der Papst, der sich auf einer Reise in Afrika befand, hat da zum allgemeinen Erstaunen die allererste Heilige Pforte in der Kathedrale von Bangui in Zentralafrika eröffnet. Er unternahm diese Reise zehn Tage vor der offiziellen Eröffnung des Heiligen Jahres für die Weltkirche. Diese Geste besitzt einen starken Symbolcharakter. Zentralafrika ist seit über zwei Jahren durch gewaltsame Konflikte zerrissen. Da, in dieser afrikanischen Erde wollte Franziskus seine Hoffnung verkünden und den Samen der Barmherzigkeit pflanzen. Franziskus verwendet gerne solche Gesten, die weit mehr sagen als lange Reden. So verkündete er durch dieses Zeichen aller Welt: wenn dieses Saatgut an diesem Ort Frucht bringen kann, dann kann es auch viele andere menschlichen Wüsten zum blühen bringen; es könnte eine Hoffnungspforte in zahlreichen von Spannungen, Gewalt und Ungerechtigkeit gezeichneten Gebieten öffnen; es wäre sogar fähig, das Gewissen aller Menschen guten Willens zu wecken. So haben nach Bangui und Rom alle offenen Pforten der Welt dieses eine gemeinsam: sie wollen Pilger der Barmherzigkeit während des ganzen Jubiläumsjahres zum Übertreten ihrer Schwellen einladen.

Das Durchschreiten der Pforte macht klar ersichtlich, dass es sich um etwas Besonderes handelt. Die Pforte markiert die Grenze zwischen ‚aussen‘ und ‚innen‘. Es geht um zwei verschiedene Welten. Die Symbolik von Pforte als Grenzlinie findet ihren stärksten christlichen Ausdruck in der Erklärung Jesu: „Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden“ (Jo 10,9). Es geht also um den einzigen Weg, Rettung zu finden. Es ist die Person Jesu selbst. Gibt es ein einziges menschliches Wesen, das diese Rettung ablehnen könnte? Gibt es eine einzige menschliche Situation der Schwäche, der Gefährdung oder der Not, die nicht nach einem glücklichen Ausgang, nach Erlösung streben würde?

Während des ganzen Jubiläumsjahrs wird die Barmherzigkeit empfohlen, erfleht, angeboten, vielfach erbetet und erhalten.  Sie hat es mit allem zu tun, was es in der Welt gibt. Sie passt sich in der mannigfaltigsten Weise an alles an, und das ist gut so. So ist der Tag, der den Migranten gewidmet ist, die Gelegenheit sich zu fragen, wie und warum die Migranten auf unsere Barmherzigkeit angewiesen sind.

Papst Franziskus, den die schwierigen Bedingungen der Flüchtlinge tief berühren, hat sich wiederum dafür eingesetzt, dass ihnen im Namen der Barmherzigkeit ein besonderer Platz offen steht. So ist jeder von uns aufgerufen, in seinem Kopf, in seinem Herzen, in seinen Gedanken und in seinem Heim einen solchen Platz der Barmherzigkeit bereit zu halten. Die Einwandererströme sind eine Realität, die uns nicht gleichgültig lassen dürfen. Aber wie sollen wir zu diesem Geschehen Stellung nehmen, das so viele Fragen aufwirft? Es gibt Stimmen, die regelmässig alle der Naivität anklagen, welche sich für unbegrenzte Aufnahme der Flüchtlinge einsetzen! Es ist klar, dass die Lösungen über individuelle spontane Antworten hinaus gehen müssen. Die Staaten, die Gesellschaften, die Kirchen werden Programme aufstellen müssen, die den zahlreichen Ursachen der Migration Rechnung tragen. Sie müssen auch die Veränderungen ins Auge fassen, die durch die Aufnahme der Migranten in unseren Gesellschaften entstehen werden. Wir wollen doch diesen unsern Brüdern ein günstiges Terrain vorbereiten, das auch ihre Wurzeln beachtet.

„In diesem Augenblick der Menschheitsgeschichte, der stark von den Migrationen geprägt ist, ist die Frage der Identität keineswegs zweitrangig. Wer auswandert, ist nämlich dazu gezwungen, einige Eigenheiten zu verändern, die seine Person ausmachen, und zugleich, selbst ohne es zu wollen, zwingt er auch denjenigen, der ihn aufnimmt, zur Veränderung.“ [1]

Solche Veränderungen können z.B. darin bestehen,

  • dass wir den Migranten zu Arbeit verhelfen, damit sie sich eingliedern können, und dass wir mit ihnen gerechte Beziehungen pflegen. Das ist etwas Anderes, als von ihnen als billigen Arbeitskräften zu profitieren!
  • dass wir den Flüchtlingen helfen, sich zu integrieren und so mithelfen, dass gegenseitige Beziehungen entstehen, was etwas Anderes ist, als über ihre Hilfe in unserem Leben vor Ort Theorien aufzustellen. Aufnahme ist ‚geben‘ und ‚empfangen‘.
  • dass wir das Wohl des ‚Andern‘ suchen, denn so können wir der Gefahr der Bildung von Ghettos, Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit vorbeu-gen.
  • dass wir versuchen, die Flüchtlinge uneigennützig aufzunehmen; das heisst, dass ihnen auch die Möglichkeit offen steht, wieder nach Hause zurückzukehren, wenn die Zeiten besser geworden sind. Vielleicht können sie sich dies heute noch nicht vorstellen. Unsere Aufnahme soll ihnen aber helfen, neu Vertrauen zu schöpfen.
  • dass wir die Begegnung mit Andern suchen und so für eine ‚Kultur der Begegnung‘ arbeiten, dass wir versuchen, Vorurteile und Ängste zu überwinden.

Die biblische Tradition macht die Aufnahme des Fremden zu einem bevorzugten Weg, Gott zu begegnen. „Ich stehe vor der Tür und klopfe an“, wird uns für das tägliche Leben gesagt, und beim letzten Gericht wird uns diese gleiche Stimme mit einem Dank überraschen: „Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen.“

Den Mitmenschen willkommen heissen, heisst Gott willkommen heissen. Nichts weniger als das!

An den Türpfosten der Barmherzigkeits-Pforten sind diese biblischen Worte in feurigen Buchstaben zu lesen. Können wir die Schwelle übertreten, ohne dass uns diese Worte des Evangeliums der Barmherzigkeit in den Sinn kommen? Sie ergehen an uns und laden uns ein, in jedem menschlichen Antlitz das Antlitz unseres Gottes zu erkennen — und die Barmherzigkeit wird Ihm die Tür unseres Herzens öffnen.

+ Jean-Marie Lovey crb

Bischof von Sitten

Delegierter für Migration der Schweizer Bischofskonferenz

[1] Botschaft von Papst Franziskus zum Welttag des Migranten und Flüchtlings 2016.

Bischofswort_d