Wort der Bischöfe 2019

29. September 2019

„Es geht nicht nur um Migranten

Liebe Brüder und Schwestern

„Es geht nicht nur um Migranten“

Mit der Wahl dieses Themas zum Welttag des Migranten und des Flüchtlings betont Papst Franziskus erneut eine der wichtigsten Ausrichtungen seines Pontifikats. Wie oft wiederholt er seine Aufrufe zugunsten von Migranten, Flüchtlingen, Vertriebenen und Opfern von Menschenhandel! Er fordert uns dazu auf, seine tiefe Sorge, um alle an den existentiellen Randbereichen lebenden Menschen zu teilen. Derjenige, der hungert, der dürstet, der Fremde, derjenige, der nichts zum Anziehen hat, der Kranke, der Gefangene, derjenige, der heute an unsere Tür klopft, ist Jesus selbst, der uns um eine Begegnung und um Hilfe bittet.

Die diesjährige Botschaft ist jedoch selbst schon im Titel aussergewöhnlich. Wenn es nicht nur um die Migranten geht, um wen denn sonst? Ohne Umschweife und unmissverständlich legt die Botschaft klar: Es geht um Sie und mich. Es geht um jeden von uns, um uns alle, um unsere Ängste und unsere Hoffnungen. Und es gibt noch tiefergehende Fragen. Wie ermutigt und lädt Gott uns ein? Zu wem werden wir? Welche Art von Gesellschaft bereiten wir für diejenigen vor, die nach uns kommen werden?

Der Migrant, der Flüchtling ist nicht da, um uns Furcht einzuflössen. Oft weckt er jedoch in uns verborgene Ängste und löst so reflexartige Reaktionen aus. Durch die Anwesenheit von Migranten und Flüchtlingen wird die Bedeutung von uns weg auf andere verlagert. Sie ist Aufruf und immerwährende Aufforderung, nicht zu vergessen, was der christliche Glaube uns lehrt: Jeder Mensch ist ein Bruder. Und der Migrant als Bruder hilft mir, mich selbst besser zu verstehen und zu kennen. So wie das Evangelium dem Christen einen Spiegel vorhält, so widerspiegle ich mich im Bruder. Warum sollte also der Bruder Angst einflössen? Vielleicht, wie die Botschaft des Papstes aufzeigt, „weil die Vorbereitung auf diese Begegnung fehlt. [1]“ Wenn die blosse Anwesenheit des Migranten unsere Ängste weckt, sollten wir uns ihnen stellen und sie ablegen, indem wir uns auf die Erfahrung und die Lehre des Evangeliums stützen. Wer ist dieser Mann, der auf dem Wasser daherkommt? „Habt keine Angst“, sagt Jesus, „ich bin es“ (Mt 14,27). Die Weiterführung des Denkanstosses von Papst Franziskus zwingt uns, die Migrationsfrage nicht für sich und losgelöst von unseren menschlichen und christlichen Wurzeln zu betrachten. Es ist wichtig, dieses Thema in tiefer Übereinstimmung mit dem, was unsere Kultur, unsere Identität ausmacht, anzugehen. Der menschlichste wie der sich auf das Evangelium berufende Christ wird sich in den vielen Aspekten des Anliegens zurechtfinden und seinen richtigen Platz finden können.

Es geht nicht nur um Migranten: Es geht um unsere Menschlichkeit; es geht um den ganzen Menschen und alle Menschen; mehr noch: Es geht darum, niemanden auszuschliessen; es geht um Nächstenliebe und darum, die Letzten an die erste Stelle zu setzen; es geht um den Aufbau der Stadt Gottes und des Menschen. Jeder dieser Abschnitte führt uns schliesslich dazu, zu verstehen, dass „es nicht nur um die Sache der Migranten geht, sondern um uns alle, um die Gegenwart und die Zukunft der Menschheitsfamilie [2]„. Wenn Migration ein Zeichen der Zeit ist, werden wir sie auf der richtigen Bedeutungsebene lesen müssen, anstatt mit dem Finger auf Migranten, Flüchtlinge und Asylbewerber zu zeigen und sie für jedes Problem, das unsere Gesellschaften betrifft, verantwortlich zu machen.

Aus Anlass des ihnen gewidmeten Tages wird der Papst Migranten, Vertriebene und ihre Begleitorganisationen zu einer besonderen Eucharistiefeier auf dem Petersplatz einladen. Sein Handeln könnte uns inspirieren! Es wäre ein wichtiger Schritt hin zu einer Entschlossenheit, im Lichte des Evangeliums zu handeln. Dies wäre ein wichtiger Schritt hin zu einer Entschlossenheit, im Lichte des Evangeliums zu reagieren. Tatsächlich zeigt uns das Evangelium Christus unter den Kleinen, den Armen. Werden sie immer nur Anspruch auf die hinabgefallenen Krümel des Banketts haben (vgl. Lk 16,19-21)? Bereits in seinem ersten Schreiben äusserte Papst Franziskus den Wunsch nach einer „Kirche im Aufbruch“, die es versteht, „ohne Angst Initiative zu ergreifen, hinauszugehen, diejenigen zu suchen, die weit weg sind und an den Hecken und Zäunen die Ausgegrenzten einzuladen“ (Evangelii Gaudium, Nr. 24).

                                         ✠ Jean-Marie Lovey

                                           Bischof von Sion

[1] Papst Franziskus, Predigt, Sacrofano, 15. Februar 2019.

[2] Botschaft von Papst Franziskus zum Welttag des Migranten und des Flüchtlings 2019.

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