Wort der Schweizer Bischöfe

Flüchtlingskinder – verletzlich und ohne Stimme

Sonntag der Völker – 12.November 2017

 Liebe Brüder und Schwestern

„Diese verachteten Männer,
diese gedemütigten Frauen,
diese Kinder, die überall abgelehnt werden,
diese Verletzten, diese Gequälten,
alle diese Menschen, die man verhöhnt hat,
Herr Jesus,
durch sie schaust Du mich an.“

Wenn die Christen sich auf den Weg zu ihrem «geistlichen Aufbruch» durch die Wüste des jährlichen Fastens machen, lässt sie die Liturgie über diese Strophe meditieren. Der Text ist ebenso klar wie das Matthäusevangelium im Bericht über das Jüngste Gericht. Der Christus unseres Glaubens identifiziert sich mit dem verlassensten, geschwächtesten Menschen. Er gibt sich dazu hin, im „Kleinsten“ erkannt zu werden: “Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan (oder nicht getan) habt, das habt ihr mir getan (oder nicht getan)“ (Mt 25). Der Kleine, das Kind ist tatsächlich im Zentrum des Evangeliums. „Wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt“, sagt Jesus, „der nimmt mich auf.“ „Und wer mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat“ (Lk 9,48). Gott ist einer von uns geworden. Seine menschliche Geschichte hat mit Jesus angefangen, mit einer grossen Herausforderung bei seiner Aufnahme. Weder seine Eltern wurden in einer Herberge in Bethlehem aufgenommen, noch er selbst, der eben zur Welt gekommen war. Und nur wenig später erwartete ihn die Prüfung des Exils. Seine Familie musste nach Ägypten fliehen. Dieser Hintergrund unserer christlichen Geschichte ermöglicht uns, immer wieder die Augen für die Situationen der Flüchtlingskinder von heute zu öffnen.

Zum Welttag der Migranten und der Flüchtlinge will Papst Franziskus dieses Jahr die Aufmerksamkeit auf die Kinder lenken. Er bittet uns inständig, uns der Flüchtlingskinder anzunehmen, „die dreifach ohne Sicherheit leben: dadurch, dass sie minderjährig, Ausländer und ohne Schutz sind, weil sie aus verschiedenen Gründen oftmals gezwungen sind, fern ihrer Heimat und getrennt von ihren Nächsten zu leben“. [1]

Minderjährige sollten sich ihrer Rechte als Kinder erfreuen können. Ein Kind hat das Recht darauf, einen Vater und eine Mutter zu haben, die es lieben, es schützen und ihm so eine gesunde Entwicklung ermöglichen. Das Kind hat ein Recht auf Bildung, auf Unterricht. Der Bischof von Damaskus, der in der Schweiz weilte, schilderte das Drama der syrischen Kinder, deren Väter und ältere Bezugspersonen im Krieg gestorben sind, und die sich nun ganz allein mit der Mutter in den Flüchtlingslagern befinden, oder auch die Situation der vielen anderen, die ihre Zeit in den verlassenen Strassen verbringen, weil ihre Schulen zerstört worden sind. Diese Kinder haben nicht einmal mehr das Recht, Kinder sein zu dürfen!

Das Flüchtlingskind kommt von anderswo. Das Umfeld, das es bei seiner Ankunft am Aufnahmeort vorfindet, erscheint ihm normalerweise fremd. Für das Wohl des Kindes ist es wichtig, dass die Migranten mit den Gemeinden, die sie aufnehmen, zusammenarbeiten können. In seiner Botschaft prangert Papst Franziskus die Ausbeutung an, der diese Kinder ausgesetzt werden, „wenn sie in die Fänge der organisierten Kriminalität geraten“ [2], währenddessen wir ihnen Schutz und Verteidigung bieten sollten. Vor den Verantwortlichen der Migrantenpastoral redete er den Ausbeutern ins Gewissen: „Ich betone, dass der »Menschenhandel« eine niederträchtige Aktivität ist, eine Schande für unsere Gesellschaften, die sich als zivilisiert bezeichnen! Ausbeuter und Kunden auf allen Ebenen sollten vor sich selbst und vor Gott ernsthaft ihr Gewissen erforschen“. [3]

Das Kind hat keine Stimme, es hat nur sein Weinen. Aber was bedeuten diese Schreie schon im Lärm der Waffen, die so grosse Bevölkerungsbewegungen auslösen? Wie sollte man auf dem Hintergrund dieses tragischen, aber realistischen Bildes nicht alle Personen ermutigen, welche Kinder auf dem Weg der Emigration begleiten? Sie sind Personen des Evangeliums, offen gegenüber den Schwächsten. Die Kirche zählt auf die Fähigkeit der Christen, ein Zeugnis für eine Gemeinschaft zu sein, wie damals Maria und Joseph, die während der Flucht nach Ägypten Zuflucht fanden.

 ✠ Jean-Marie Lovey crb

[1] Botschaft von Papst Franziskus zum Welttag der Migranten und Flüchtlinge, 2017

[2] Id.

[3] Ansprache vor dem Päpstlichen Rat für die Migranten und Itineranten, 24. Mai 2013.

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